Vorbemerkungen

Gegenstand diesen Beitrages ist eine Rezension aus wasserwirtschaftlicher Sicht des juristischen Fachartikels

Politik durch Zahlen, oder: Die Diktatur der Grenzwerte
Das Phänomen politischer Herrschaft durch technische Normen als Herausforderung des Rechts

des deutschen Rechtswissenschaftlers Herrn Prof. Otto Depenheuer [1]. 

Er ist Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

Ein Imperativ der Grenzwertbewertung!

Besser, als es Prof. Otto Depenheuer formulierte, ist das Grenzwertdilemma, um das es in dem folgenden Beitrag geht, wohl kaum auf den Punkt zu bringen:

… nicht die Grenzwerte dürfen die Urteilskraft des Einzelnen bestimmen, sondern die praktische Urteilskraft muss Plausibilität, Reichweite und Sinnhaftigkeit der Grenzwerte bestimmen.“ DEPENHEUER [1]

Höchst aufschlussreich, zielorientiert und hilfreich sind in dem Zusammenhang die sehr umfänglichen und vielseitigen Überlegungen des Juristen insbesondere über wasserwirtschaftliche Grenzwerte.  Die Länge des aber kurzweiligen und zugleich hochkarätigen Beitrages  resultiert logisch aus den aufwändigen, notwendigen, nachvollziehbaren und nachprüfbaren Begründungen seiner Konklusionen.

Herr Prof. Otto Depenheuer verfasste den Artikel in einer auch für Nichtjuristen verständlichen Weise und belegte seine Argumente mit zahlreichen Quellen. Sie decken sich mit zahlreichen diesbezüglichen wasserwirtschaftlichen sowie ökologistischen Widersprüchen, Beobachtungen und Erfahrungen.

Die eigentliche Rezension beginnt mit Kapitel 2 , also nach der nun folgenden Erörterung ausgewählter wasserwirtschaftlicher, ökologischer und einiger weniger philosophischer Aspekte mit Bezug zur Realität in der beruflichen Praxis und Natur. Der Bezug zur Philosophie ist meist dann hilfreich und erhellend, wenn Gesetze oder Regelungen unvernünftig erscheinen, weil sie nicht mehr mit gesundem Menschenverstand zu verstehen sind.

Insgesamt gesehen ein Beitrag, der bei Wasserbehörden und in Wasserrechtstreitigkeiten für Gerichte und Prozeßparteien (Kommunen, Abwasserzweckverbände und betroffenen Unternehmen) Interesse und Beachtung finden sollte.

Diesbezügliche Anlässe könnten sein: 

  • Abwasserabgabe ohne Gewässerschaden
  • fragwürdige Grenzwerte sowie deren Verschärfung
  • Unverhältnismäßigkeiten
  • inkohärente und inkonsistente oder gar fehlende Begründungen behördlicher Entscheidungen. 

Voraussetzung für eine sachliche juristische Lösung ist die Akzeptanz der wissenschaftlichen Ökologie, also frei von Moral, als Referenz aller Überlegungen und fachlichen Urteile. Vergleiche dazu z.B. die Ausführungen von Prof. Lampert:

In dem Falle aber, dass die politische Ökologie als Beweismittel zugelassen wird, dann erübrigen sich alle Anstrengungen mit dem Ziel einer sachlichen, konsistenten und kohärenten wissenschaftlichen und verhältnismäßigen Lösung bzw. Beurteilung.

Der wasserwirtschaftliche Anlass zum Nachdenken

von Uwe Halbach, ö.b.u.v. Sachverständiger für Abwasserbeseitigung der Ingenieurkammer Sachsen

Im Lauf der Zeit hat sich der Charakter der Wasserwirtschaft für den Wassernutzer verändert. Während früher die Effizienz für den Wassernutzer bedeutungsvoll war, ist dies heute zunehmend seltener der Fall. Heute geht es oft um moralistische Ziele, s. g. „gute“ Zustände lt. der EU Wasserrahmenrichtlinie. So fehlt in der Konsequenz den Grenzwerten der Bezug zur realen Natur und den moralistischen (gut, schlecht) begründeten Zielen fehlt die wissenschaftliche Bewertungsgrundlage für tatsächlich wasserwirtschaftliches Handeln. Zudem beruht die Argumentation mit moralistischen Prämissen bekanntlich auf einem Fehlschluss. Vergleiche hinsichtlich des Fehlschlusses STENGEL [6]. 

Die Definition „guter“ Zustände als auch die Festlegung „wasserwirtschaftlicher“ Grenzwerte ist teils beliebig, teils wird es Zielen der politischen Ökologie begründet, einer Weltanschauung, die mitunter auch Ökologismus genannt wird.

Moralistische Zustände kennt die wissenschaftliche Ökologie jedoch nicht. 

Moralistische Ziele entziehen sich wegen ihrer Mehrdeutigkeit und Beliebigkeit jeder eindeutigen wissenschaftlichen und rechtlichen Bewertung.

Siehe hierzu: 

Die Welt nach Wille und Vorstellung

Die Grenzwertproblematik läßt sich mit juristischen, logischen, oder ökologischen Argumenten allein schwer beschreiben und „umzingeln“. Das wurde mit dem kleinen Beitrag „Die Wasserwelt als Wille und Vorstellung und der urteilende Mensch“ (in der Regel hoffnungslos) aufgezeigt.

Moralistische Begründungen, beruhend auf einer politischen Weltanschauung stellen wahrhaftige Ökologen, Wissenschaftler, Rechtsanwälte und Richter vor ein Dilemma. Grenzwertdefinitionen sind – wie im Folgenden von Herrn Prof. Depenheuer noch bewiesen wird – eine umweltpolitische Angelegenheit. Solange man keinen Ausweg findet, erübrigt sich jede sachliche, wissenschaftliche Bewertung.

Ein Ausweg, der allerdings erkämpft werden muss (d.h. sein Beschreiten bedarf einiger Anstrengungen), wird im Beitrag „Politik durch Zahlen, oder: Die Diktatur der Grenzwerte“ noch aufgezeigt. 

Mittels politischer Ökologie wird die Realität bzw. die Welt nach Willen und Vorstellung beurteilt. Angeboten wird dazu ein kleiner Ausflug in die (angewandte) Philosophie: 

Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit hatte ich zahlreiche Gutachten zu erstellen, mit deren Argumentationen die Effizienz wasserwirtschaftlicher Maßnahmen zu bewerten war. Auslöser waren dabei teils wasserbehördliche Vorstellungen über Verschärfungen meist ohnehin schon fragwürdiger Überwachungswerte. (Überwachungswerte sind Grenzwerte – Konzentrationen –  der Inhaltsstoffe im Ablauf von Kläranlagen). Kommunales Ziel war es,  mittels interdisziplinärem Nachweis der Ineffizienz verschärfter Überwachungswerte eine Nichtverschärfung der Grenzwerte zu erreichen, um schließlich erhebliche Kosten sparen zu dürfen. In einigen Fällen gab es dazu auch behördenkonforme Gerichtsurteile. In anderen Fällen wurde (unter großem kommunalpolitischen Druck) nachgegeben , z. B. hier: Der Bergsee Ratscher und dessen Phosphor. 

Es sei darauf hingewiesen:

Mit verhältnismäßigen Grenzwerten könnte mit Gewißheit ein gigantisches Kosteneinsparungspotential erschlossen werden. Das betrifft insbesondere auch die Energiekosten. Die Nutzung des Potentials ist aus gesetzlichen Gründen bislang verboten.

Allein das Berücksichtigen der Tatsache, dass der CSB kein Schadstoff ist, würde zu einer beachtlichen Effizienzsteigerung bei Gewässerschutzmaßnahmen führen.

Hinter solchen o. g. Effizienzgutachten verbirgt sich oft auch eine Tragik der jeweiligen Auftraggeber. Betroffen sind Kommunen, Unternehmen, Abwasserzweckverbände, Stadtwerke oder auch einfache Bürger. Dabei wird Geld für Gutachter, Anwälte und Gerichte ausgegeben, um politisch determinierte Grenzwerte abzuwenden. Die Schuld an der Tragik den Behörden zu geben, wäre zu einfach, denn der Staat hat seinen Behörden keinen Ermessens- und Beurteilungsspielraum eingeräumt. 

Warum nicht?

Wer gewinnen will, muss also mit allen legalen Mitteln kämpfen! Wenn z. B. den Bürgern und der Kommune eine wissenschaftlich unbegründete Abwasserabgabe-Strafzahlung von einer Million Euro egal ist, dann muss man sich nicht wundern, wenn Verwaltungsgerichte sich für die Million auch nicht interessieren und schließlich die Welt konfliktarm und unaufgeregt nach politischen Vorstellungen bewerten.

Eine erste Voraussetzungen für weise Entscheidungen besteht darin, die Dinge ungeschmückt beim Namen zu nennen und zu wissen, dass jedes Gute auch seine Schattenseiten hat, wobei bei Akzeptanz der schlechten Konsequenzen das gute Ziel am Ende ein sehr schlechtes Ziel sein könnte. 

Im Kern geht es dabei häufig um die Beurteilung einer Zahl, eines Grenzwertes.

Dieser Zahl, dem Betrag eines Grenzwertes also, widmet sich Herr Prof. Otto Depenheuer und definiert ihn aus juristischer Sicht als eindeutig. D. h., z. B.: Aus Messwert > Grenzwert folgt eindeutig eine wasserrechtlich fixierte Konsequenz, ohne wenn und aber. Dabei ist aber das Ereignis und der Prozess in der Realität, in der Natur fast immer mehrdeutig.

Die Realität ist überwiegend vielfältig bzw. mehrdeutig!

Fall 1

Einerseits

veranschaulicht das Netzdiagramm die Vielfalt der Ziele bzw. Nutzen verschiedener Varianten einer Abwasserbeseitigung im ländlichen Raum.

Andererseits gilt eine Doktrin, z.B.:

Versagung der Einleitung von vollbiologisch gereinigtem Abwasser in einen zeitweise trockenfallenden Bach ohne ökologische Begründung bei gleichzeitiger Genehmigung der Versickerung von Gülle neben dem trockenfallenden Bach. 

Fall 2:

Man bewerte vergleichend z. B. eine abwasserabgabeverursachende Fracht (Konzentration x Wassermenge) im Kläranlagenablauf bei einer Überwachungswertüberschreitung um das Zehnfache im Kontext mit einer gleichzeitigen z.B. hundertfachen Überschreitung der Schmutzfracht im Hochwasserfall eines Gewässers.

Da geht jede Verhältnismäßigkeit „den Bach runter“.

Grundsätze der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder

Für wasserwirtschaftliche Maßnahmen wird sehr viel Geld ausgegeben und diesbezüglich sind noch die Grundsätze der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder für die Verwaltungsorganisation [10] zu beachten. Von dieser Seite wurde eindeutig (!) festgelegt:

Bei einer Wirtschaftlichkeitsuntersuchung ist insbesondere darauf zu achten, dass

  • vorab die Ausgangslage und der Handlungsbedarf analysiert werden,
  • Ziele, Prioritäten und mögliche Zielkonflikte vorher eindeutig definiert sind,
  • die relevanten Lösungsmöglichkeiten betrachtet werden,
  • nur der Nutzen zu berücksichtigen ist, der von der zu betrachtenden Maßnahme ausgeht,
  • die mit der Maßnahme verbundenen Risiken berücksichtigt werden,
  • eine geeignete Methode angewendet wird (z. B. Kostenvergleichsrechnung, Kapitalwertmethode, Nutzwertanalyse) und
  • die monetäre Betrachtung im Vordergrund steht. [10]

Aus der Definition der Eindeutigkeit entsteht ein weiterer Konflikt:

Einerseits ist das „guten Tun und gutes Wollen“ mehrdeutig und verursacht damit in der Realität eine große Beliebigkeit. Andererseits aber sind zur Vermeidung wasserwirtschaftlicher Fehlinvestitionen vor einer Investition Ziele, Prioritäten und mögliche Zielkonflikte eindeutig zu definieren!

Das ist so evident wie das Halbe ein Teil des Ganzen ist!

Die Einfalt der Grenzwerte

Prof. Depenheuer veranschaulicht den Widerspruch der üblichen Argumentation zwischen einfältigem Urteilen über Grenzwerte und der Vielfältigkeit der Natur. 

Die grundsätzlichen aktuellen Trends dazu hat Prof. Dr. Thomas Bauer anschaulich und widerspruchsfrei hier dargelegt. 

 

Es folgt nun eine Rezension des Beitrages mit einigen Zitaten aus dem bemerkenswerten Aufsatz von Herrn Prof. Otto Depenheuer mit weiteren Hinweisen.

 

Politik durch Zahlen, oder: Die Diktatur der Grenzwerte

Das Phänomen politischer Herrschaft durch technische Normen als Herausforderung des Rechts

Prof. Otto Depenheuer

Der komplette Beitrag ist zu lesen in der Dokumentation über den

Trierer Wasserwirtschaftsrechtstag 2019 – Der Grenzwert im Wasserrecht 15. und 16. Mai 2019 erschienen im Carl Heymanns Verlag.

Im Folgenden wird nun auf einige Aspekte aus dem Werk eingegangen.

Der Beitrag beginnt mit dem Blick auf die zunehmende »Verzählung der Welt« welcher die »Vermessenheit« des zahlenbasierten Handelns auf dem Fuße folgt.

Gegenwärtig stellt sich das uralte Phänomen des Glaubens in die Macht der Zahlen somit in verschärfter und zunehmender Dringlichkeit: die Totalisierung der zahlenbasierten Erfassung und Steuerung des gesamten Lebens. Grenzwerte bestimmen immer mehr, strikter und intensiver das menschliche Leben »von der Wiege bis zur Bahre«“ DEPENHEUER [1]

Hochinteressant und aktuell ist auch, wie der Autor seinen Bogen zwischen der »Verzählung der Welt« und der Diktatur der Grenzwerte spannt und dies vor allem nachvollziehbar  und nachprüfbar begründet. Ein Blickwinkel, der in der wasserwirtschaftlichen Fachliteratur und der wasserbehördlichen Praxis m. E. wohl einmalig sein dürfte.

Über Grenzen und Grenzwerte

Auf Seite 23 wird das seit Jahrzehnten bestehende Dilemma im Wasserrecht offensichtlich:

… nicht die Grenzwerte dürfen die Urteilskraft des Einzelnen bestimmen, sondern die praktische Urteilskraft muss Plausibilität, Reichweite und Sinnhaftigkeit der Grenzwerte bestimmen.“ DEPENHEUER [1]

Ein Beispiel aus der Praxis: Ende November 2021 hatte ich im freundlichen Gespräch mit einer Naturschutzbehörde feststellen dürfen, dass ihre praktische Urteilskraft eben nicht zur Wirkung kam, weil sie verborgen wurde. Die Plausibilität, Reichweite und Sinnhaftigkeit ihrer Grenzwerte blieb nebulös. So konnte oder wollte die Naturschutzbehörde nicht begründen, warum sie was konkret in der Natur ändern wollte.

Leidtragende waren einige sächsische Bürger, denen aus nicht nachvollziehbaren Naturschutzgründen die Wasserbehörde die Einleitung des vollbiologisch gereinigten Abwassers untersagen musste und auf die nun einige Tausend Euro unnützer Investition zu kommen dürfte und dies obwohl die Einleitstelle über 10 Jahre bestand und die biologische Wassergüte vor und nach der Einleitstelle die Güteklasse I aufwies.

Zur Ehrenrettung einer Behörde im Allgemeinen sei gesagt, dass wenigstens die Wasserbehörde einen Blick für die Natur, wie sie ist, hatte. Ihre Effizienzvorstellungen blieben allerdings von der Naturschutzbehörde unbeachtet.  

Was für eine Zahl, wenn die Referenz falsch ist?

Die Einfalt der Grenzwerte

Interessant ist im weiteren Verlauf des Beitrages sein Brückenschlag zur Vereindeutigung der Welt. Herausgearbeitet wird, dass Grenzwerte als Zahl eben eindeutig sind und die Vereindeutigung keine Diskussion über Nutzen oder Schaden, Sinn oder Unsinn erlaubt.

Aber gerade in dieser unüberbietbaren »Vereindeutigung der Welt« durch Grenzwerte — ihre Übersetzung in messerscharf abgezirkelte Tatbestandsmerkmale — liegt das grundsätzliche Problem der Grenzwerte: ihre Eindeutigkeit wird erkauft durch eine Eindimensionalität der daran anknüpfenden Rechtsfolgen: sie gelten unbedingt, strikt, ausnahmslos. So dient jede Grenzwertbestimmung einem — politisch vorgegebenen Ziel, in der Regel der Prävention. Aus sich heraus verlangt ein Grenzwert daher strikte Beachtung ohne Rücksicht auf gegenläufige Rechtsgüter, Interessen, Präferenzen. Diese Eindimensionalität, die Grenzwerten aus sich heraus eignet, bildet für eine freiheitlich verfasste und rechtsstaatlich organisierte politische Ordnung aber eine Herausforderung in prägnanter Weise.“ DEPENHEUER [1]

Aus der Eindimensionalität folgt die Hegemonie der Zahlen als eine Kategorie der Macht und weiter folgt daraus unversehens eine Politisierung der Zahlen: so sind Grenzwerte immer auch eine Form politischer Machtausübung.  (Seite 24, DEPENHEUER [1])

Das ist eine Realität und was war die Vorstellung?

Das Gewißheitsideal der Neuzeit

Die wachsende Abhängigkeit der Gesellschaft von den Zahlen generiert eine geradezu religiöse Zahlengläubigkeit: die Zahl wird zum neuen Gott des modernen Menschen. Entsprechend mutieren Zahlen und Grenzwerte vom Segen zum Fluch.„(M. Reinhardt: Grenzwerte – Fluch oder Segen, Entwicklungslinien im Umweltrecht zwischen Rechtssicherheit und praktischer Vernunft, NuR 2015, S. 289 ff.) DEPENHEUER [1]

Der Verlust des gesunden Menschenverstandes

Im weiteren Verlauf wird festgestellt, dass die anzustrebende Überwindung der Zahlengläubigkeit auf eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft trifft und dass die in der Orientierung stiftende Institutionen immer schwächer werden.

Die Zahlengläubigkeit großer Teile der Bevölkerung ist zugleich Folge wie Konsequenz dieses zunehmenden Verlustes an praktischer Urteilskraft.“ DEPENHEUER [1]

Oder aus der Überschrift des Kapitels spektakulär abgeleitet:

Der Verlust des gesunden Menschenverstandes ist die Konsequenz des Zahlentotalitarismusses (oder des Zahlenterrorismusses ?).

Ein Ausweg erscheint schwierig: „Jedenfalls ängstigt das Bewusstsein seiner Kontingenz den modernen Menschen zutiefst, weil er verlernt hat, den Zufall zu verarbeiten und mit Kontingenz gelassen zu leben.“  DEPENHEUER [1]

Dieser durchaus korrekten Botschaft aus Köln passt zu einem persönlichen Erlebnis aus Sachsen-Anhalt:

Es war irgendwann zwischen 1976-1987. Ich war damals wissenschaftlicher Mitarbeiter für Wasserwirtschaft im Institut für Geflügelwirtschaft Merbitz (Sachsen-Anhalt) als mein Chef zu einer ähnlichen Ausweglosigkeit gelassen bemerkte:

Wo ein Wille, ist ein Gebüsch!“ 

Besser als mit diesen 6 Worten sowie mit minimalem Erklärungsaufwand ist das Grenzwertdilemma und der Ausweg zugleich nicht zu beschreiben. Man muss es also nur wollen und es müssen meist viele wollen. 

Gebüsch

Ein Gebüsch aus Sachsen – Anhalt. Vielleicht kann die erwähnte ostdeutsche Weisheit auch in der heutigen Zeit wieder Akzeptanz finden und zugleich eine hilfreiche Methode zur Problemlösung in allen Lebenslagen sein?

Bildquelle: Überlegungen zur Renaturierung des Domerslebener Sees

Zu dem Thema „Gesunder Menschenverstand“ erlaubte sich Schopenhauer folgende Bemerkung:

Neue Grundeinsichten hingegen sind nur aus der anschaulichen, als der allein vollen und reichen Erkenntniß zu schöpfen, mit Hülfe der Urtheilskraft…denn da alle Abstraktion im bloßen Wegdenken besteht; so behält man, je weiter man sie fortsetzt, desto weniger übrig.

Weitere Überlegungen zu dem Thema sind im folgenden Beitrag „Tatsachenfeststellungen in Gerichtsgutachten“ und natürlich beim Urheber  Schopenhauer [1] selbst zu finden.

Resümee: Schopenhauer stärkt die Überlegungen über die Zweckmäßigkeit der Benutzung des gesunden Menschenverstandes.  

…und da wir beim Philosophieren sind: 

Von der technischen Digitalisierung zur politischen Totalisierung

Im Kapitel III „Die Macht der Zahlen, oder : Politik der Zahlen“ des Beitrages von Herr Prof. Depenheuer werden folgende Aspekte erörtert:

  1. Von der technischen Digitalisierung zur politischen Totalisierung
  2. Unpolitische Zahlen zu politischen Zwecken
    • Die Funktion von Grenzwerten
    • Wissenschaftliche Grenzwerte sind abwägungsavers (der Abwägung zugewandt)
    • politische Grenzwerte dienen politischen Zwecken
  3. Rechtsstaatliche Kontrolldefizite

Unpolitische Zahlen zu politischen Zwecken

Ein Auszug aus dem Kapitel III 2.:

Daher genießen die Zahlen nach wie vor großes Vertrauen in der Bevölkerung und bedient sich die Politik und Behörden ihrer mit bestem Gewissen und verwaltungsgerichtlicher Billigung.
Diese Sicht sieht sich drei Einwänden ausgesetzt: zum einen erweisen sich die »wissenschaftlich bewiesenen« objektiven Grenzwerte in der Praxis nicht selten als mehr als fragwürdig.

Daraus könnte folgen: nicht die Wirklichkeit findet sich in den Zahlen wieder, sondern der gute Wille resp. der ihm entsprechende Glaube, dass die Zahlen die Wirklichkeit abbilden sollen (a).

Vor allem aber: wenn Grenzwerte unpolitisches Resultat reiner Wissenschaft und für die Politik verbindliche Eckwerte wären, könnte man mit ihnen keine Politik machen, da Politik immer auf einen Ausgleich widerstreitender Interessen zielen muss. Die Eindimensionalität der Grenzwerte aber macht diese weithin abwägungsresistent, wie die Diskussion um Fahrverbote bei Überschreitung von Abgaswerten eindrucksvoll belegt hat. (b).

Tatsächlich bestimmt denn auch niemand Grenzwerte um ihrer selbst willen: Grenzwerte stehen stets im Dienst einer politischen Absicht, d. h. sie sind — das mag einem gefallen oder nicht — stets politisch »infiziert«. Sind Grenzwerte aber selbst Ausdruck und Ergebnis eines Abwägungsprozesses, sind sie entstehungsbedingt bereits politisch und können damit nicht mehr reine Wissenschaft sein (c.)“  DEPENHEUER [1]

Die Funktion von Grenzwerten

Und weiter unter III 2. a)

Denn für alle Grenzwerte gilt: diese lassen sich nicht aus der Wirklichkeit ableiten, sondern über sie muss man entscheiden — wissenschaftlich oder politisch.“ DEPENHEUER [1, S. 30]

Eine noch geduldete natürliche Teichkläranlage

Wissenschaftliche Grenzwerte unterliegen Abwägungen

Eine Empfehlung:

„Daher empfiehlt es sich, die Rigidität der Grenzwerte prinzipiell aufzulockern. Tatsächlich ziehen Grenzwerte keine klare Grenze zwischen Gefahr und Nichtgefahr, sondern vermitteln eine ungefähre Orientierung, bilden eher den Kernbereich innerhalb einer größeren Zone. Daher gibt es weder einen moralisch unbedenklich ausnutzbaren Bereich unterhalb des Grenzwerts noch eine zwingende Handlungspanik oberhalb. Über praktische Konsequenzen muss jeweils die Abwägung in Ansehung der jeweils konkreten Umstände entscheiden. So könnte für jede Grenzwertbestimmung eine Standardabweichung (Konfidenzintervall) angegeben werden, wodurch eine verbindliche Orientierungsmarke gesetzt, die aber für allfällige Abwägungen bewußt offengehalten ist.“ DEPENHEUER [1, S. 31]

Hier wäre ggf. zu ergänzen, dass es auch wissenschaftliche Grenzwerte gibt, die keiner Abwägung unterliegen, z. B. die kritische Masse von Uran oder die Grenztiefe in der Gerinnehydraulik. Aber um derartige Grenzwerte geht es in dem Beitrag nicht.

Hier ging die Abwägung schief.

Politische Grenzwerte dienen politischen Zwecken

Im folgenden Kapitel III 2 c DEPENHEUER [1, S. 31] wird bewiesen, dass politische Grenzwerte natürlich politischen Zwecken dienen. Davon unterscheiden sich wissenschaftliche Grenzwerte.

Dabei wäre wohl zu bewerten, ob die Wissenschaftler tatsächlich unabhängig von politischen Zielen arbeiten (dürfen). Anderenfalls beißt sich die Katze in den Schwanz.

Rechtsstaatliche Kontrolldefizite

Rechtsstaatliche Kontrolldefizite scheint es in der Tat zu geben.

Im Kapitel III 3. „Rechtsstaatliche Kontrolldefizite“ wird ausgeführt, dass es im Ergebnis des Umbaues des Rechts- zum Digitalstaat für eine rechtsstaatliche Kontrolle kaum einen Anknüpfungspunkt gibt.

Das einzige, was noch zählt, sind die Zahlen. Anders formuliert: die Abwägung widerstreitender Interessen – Kernstück jeder politischen, exekutiven und gerichtlichen Entscheidung – findet politisch kaum mehr statt.“  DEPENHEUER [1, S. 33] 

„Grenzwerte, sind sie erst einmal »gesetzt«, fordern stattdessen ultimativ Beachtung: die Diktatur der Zahlen wäre etabliert, wenn nicht der Rechtsstaat diese Herausforderung annähme und bewältigte.“ DEPENHEUER [1, S. 33]

Verfassungsrechtliche Grenzen des Grenzwertregimes

Das Kapitel beginnt mit der Feststellung und Bewertung der Zurückhaltung der Verwaltungsgerichte bei der Beurteilung von technischen Normen und führt weiter aus, dass diese überkommene Dogmatik einerseits schlüssig ist und in sympathischer Weise plausibel sei, allein wird sie der zunehmenden Dominanz der Zahlen, dem Phänomen politischer Herrschaft mit und durch Zahlen nicht mehr gerecht. Man wird sie deshalb in dieser Weise nicht weiter praktizieren können.

Im Kapitel III 2a (DEPENHEUER [1, S. 35]) wird die Entscheidungsverantwortung des Gesetzgebers bei der Legitimation und Kontrolle der Grenzwerte herausgearbeitet.

Es folgt eine korrekte Einlassung über die Unsicherheit der Wissenschaftlichkeit von Grenzwerten mit Blick auf Karl Popper. 

Der Gang der Wissenschaft besteht im Probieren, Irrtum und Weiterprobieren.“ (DEPENHEUER [1, S. 35])

Das stimmt allerdings nur bei der Anwendung empirische Wissenschaften.  Zu ergänzen wäre m. E. also, dass es eine Unsicherheit bei der Anwendung formaler Wissenschaften (Logik) nicht gibt, sofern mit wahren Prämissen deduktiv und gültig argumentiert wird. (Gültig im Sinne einer gültigen Argumentationsstruktur.)

Dazu ein Beispiel mit dem Grenzwert „chemischer Sauerstoffbedarf“ (CSB), der bei der Überwachung des Ablaufes von Kläranlagen in Gewässer und bei der Begründung einer CSB-Abwasserabgabe genutzt wird. Dabei wird der unter Laborbedingungen gemessene chemische Sauerstoffbedarf 1:1 auf das Gewässer übertragen und ein deduktiver Fehler begangen, weil ein Gewässer keinen Bedarf an chemischen Sauerstoff in der Weise und Menge hat, wie er im Labor gemessen wurde.

Daraus folgt bei Nutzung des gesunden Menschenverstandes:

Alle CSB-Grenzwerte und die zugehörige CSB-Abwasserabgabe müsste wegen Evidenz sofort und ohne großartigen wissenschaftlichen Nachweis aufgehoben werden. Es handelt sich bei dem „CSB-Schadstoffbeweis“ um eine unwissenschaftliche Fiktion!

Zur Vertiefung: Was ist unter dem Chemischen Sauerstoffbedarf (CSB) einer Wasserprobe zu verstehen?

Doch zurück zur Wissenschaftlichkeit von Grenzwerten:

Damit zieht das Bundesverfassungsgericht die überfällige Konsequenz aus einem urdemokratischen Grundsatz:

Wer die Kompetenz zur Bestimmung von Grenzwerten hat, übt politische Macht aus, und diese Macht muss demokratisch legitimiert sein und rechtsstaatlich kontrolliert werden können. Sie kann und darf dieser Entscheidungsverantwortung nicht ausweichen, sondern muß den Dezisionscharakter auch technischer, objektiver (= alternativloser) Standards erkennen und dieser Erkenntnis verfassungsrechtlich Rechnung tragen.   (DEPENHEUER [1, S. 37])

(Dezision = gesetzliche Entscheidung einer einzelnen strittigen Frage)

Das Fazit

Wir müssen, können und werden im fortgeschrittenen Digitalstaat gar nicht anders als mit den Zahlen leben. Gerade deswegen gilt es zunächst und vor allem zu lernen, mit den Zahlen zu leben, aber sich nicht ihnen blind zu unterwerfen. Denn die Gefahren der Zahlenwelt sind offensichtlich und unübersehbar: übersteigerte Zahlenorientierung unterminiert elementare menschliche Lebensvollzüge wie Vertrauen, Verantwortung, Professionalität und Urteilskraft. Selbst Authentizität und Personalität muß sich hinter Zahlen verstecken, um wahrgenommen zu werden. Daher besteht die Aufgabe darin, uns durch die Zahlen nicht beherrschen zu lassen. Die genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts läßt insoweit Hoffnungen keimen, indem sie politische Urteilskraft anmahnt und blinder Zahlengläubigkeit einen Riegel vorschiebt. Dass das Gericht damit Recht hat, läßt sich schon der Bibel entnehmen, die lehrt: »am Anfang war das Wort« — und eben nicht die Zahl. Sollten morgen die Zahlen die ebenso umfassende wie unkontrollierte Macht übernehmen, wüssten wir zumindest, was die Stunde geschlagen hat.“ (DEPENHEUER [1, S. 38])

Ausblick

Konstruktiv, hochinteressant, aktuell, spannend, viele neue Aspekte werden nachvollziehbar und nachprüfbar vorgetragen. Ein aufschlussreicher juristischer Blickwinkel der in der wasserwirtschaftlichen Fachliteratur und der wasserbehördlichen Praxis m. E. wohl recht einmalig sein dürfte.

Bestellung der Broschüre über den Trierer Wasserwirtschaftsrechtstag 2019 – Der Grenzwert im Wasserrecht erschienen im Carl Heymanns Verlag.

Weitere Autoren und Beiträge im Band 7 der Schriftenreihe:

  • Gewässerschutz durch Grenzwerte
    Wolfgang Kock, Leipzig
  • Politik durch Zahlen, oder: Die Diktatur der Grenzwerte
    Das Phänomen politischer Herrschaft durch technische Normen als Herausforderung des Rechts
    Otto Depenheuer, Köln
  • Der Sevilla-Prozess zur Grenzwertfestsetzung im Abwasserrecht
    Professor Dr. Tilman Cosack, Hochschule Trier, Umwelt-Campus Birkenfeld
  • Verwaltungsgerichtliche Kontrolle der behördlichen Grenzwertsetzung
    Dr. Herbert Posser, Düsseldorf
  • Das Verfahren der Interkalibrierung im europäischen Wasserrecht.
    — Supranationale Verfahren zur materiellen Grenzwertbestimmung im Lichte des europäischen und deutschen Verfassungsrechts —
    Professor Dr. Michael Reinhardt, LL.M. (Cantab.), Universität Trier

Literatur- und Quellenverzeichnis

[1] Depenheuer, O.:  Politik durch Zahlen, oder: Die Diktatur der Grenzwerte, Das Phänomen politischer Herrschaft durch technische Normen als Herausforderung des Rechts,  Trierer Wasserwirtschaftsrechtstag 2019 – Band 7: Der Grenzwert im Wasserrecht, Carl Heymanns Verlag, ISBN 978-3-452-29599-6, Erscheinungstermin 21.04.2020, 1. Auflage 2020

[2] U. Halbach: Verschärfte Überwachungswerte sind nicht plausibel (pdf) 

[3] Aufsätze zur Effizienz wasserwirtschaftlicher Maßnahmen im Archiv des Institutes für Wasserwirtschaft Halbach 

[4] Halbach, U.: CSB – Beweismittel einer Gewässerverschmutzung?

[5] Steinberg, Ch.: Von Mistbienen, Haussperlingen und der EU-Wasserrahmenrichtlinie – eine beabsichtigte Polemik

[6] Stengel, O.: Vorsicht, Denkfehler!: Wie man sie erkennt und vermeidet Taschenbuch – 26. September 2005

[7] Gärtner, E. L.: Öko-Nihilismus: Eine Kritik der Politischen Ökologie, TvR Medienverlag 2007

[8] Reichholf, J. H.: Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. edition unseld SV, 1. Auflage 2008

[9] Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Dritte, verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage von 1895, Voltmedia GmbH , Paderborn

[10] Grundsätze der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder für die Verwaltungsorganisation 

Rückblick

 

 

Print Friendly, PDF & Email